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Kommentar zu: Borchert, Schulke und Schneider (2018) "eSport: Vom Präfix zum Thema für den organisierten Sport!?"

Der vor fast 30 Jahren von Rudolf Stichweh in der Sportwissenschaft formulierte Vorschlag, den Sport als jenes gesellschaftliche Teilsystem zu fassen, "das aus allen Handlungen besteht, deren Sinn die Kommunikation körperlicher Leistungsfähigkeit ist" (1990, S. 380), stellt meines Erachtens bis heute den plausibelsten Versuch dar, den Sport als gesellschaftliches Phänomen zu fassen und dabei einerseits die gesamte Vielfalt und Heterogenität sportlicher Handlungen einzufangen, anderseits aber auch die Einheit des Sports zu beschreiben, ihn also von anderen gesellschaftlichen Phänomenen abzugrenzen. Mit diesem Sportverständnis lassen sich wettkampfsportliche Handlungen in traditionellen Sportarten genauso erfassen wie Trendsport oder jugendkulturelle Bewegungsformen wie Skateboarden oder Le Parcours. Dieses Sportverständnis ermöglicht es zudem, Formen struktureller Kopplung des Sports mit anderen gesellschaftlichen Teilsystemen zu beschreiben, z. B. im Bereich des Gesundheitssports oder des Sportunterrichts als Kopplung von Sport- und Erziehungssystem. Die Einheit des Sports besteht dabei darin, dass es jeweils darum geht, zu zeigen, was man mit seinem Körper anstellen kann, was man also körperlich leisten kann, ganz unabhängig davon, ob dies in einem Wettkampfkontext geschieht oder nicht. Dabei orientiert sich die Wahrnehmung, ob etwas als Leistung anerkannt und in diesem Sinne beobachtet wird, nicht zwangsläufig und ausschließlich an einer sozialen Bezugsnorm (z. B. am Prinzip des Weltrekords), sondern auch am individuellen Leistungsniveau des Leistenden, also an Rekorden im wörtlichen Sinne der Aufzeichnung bisheriger Leistungen der Person, die als Erwartungsmaßstab fungieren (Stichweh, 1990, S. 384). Legt man dieses Verständnis zugrunde, dann würde die Integration wettkampfmäßiger Computerspiele die Einheit des Sports aufheben. Denn diese Einheit wird bislang dadurch erzeugt, dass die Identifikation als sportliche Handlung über die Beobachtung der kommunizierten körperlichen Leistung erfolgt. Genau dies meint auch der Begriff der sportartbestimmenden motorischen Aktivität. Und dies gilt völlig unabhängig davon, ob die körperliche Leistung in der Auseinandersetzung mit technischem Gerät erbracht wird oder nicht: Der Rennfahrer steuert das Auto, d.?h. er lenkt, schaltet, gibt Gas, bremst etc., und dies alles unter enormen Kräften, denen er ausgesetzt ist. Der Segler steuert das Boot, das über das Wasser gleitet. Er setzt Segel, holt sie wieder ein, verlagert das Gewicht durch den Einsatz seines Körpers, etc. Der Schütze legt an und bringt seinen Körper in eine stabile Position, damit er ins Zentrum der Scheibe trifft (übrigens ganz unabhängig davon, ob der Treffer durch eine Bleikugel oder aus umwelttechnischen Gründen durch einen Laserstrahl abgebildet wird). Für alle diese Sportarten gilt, dass sie allein über die motorische Aktivität, d.?h. durch die Kommunikation körperlicher Leistung einen sportlichen Sinn erzeugen. Und all dies geschieht ganz real und ist jeweils als Handlungseinheit beobachtbar. Genau dies ist beim eSport nicht der Fall: Wettkampfmäßige Computerspiele lassen sich einzig und allein über das virtuelle Spielgeschehen beobachten, nicht aber über die motorische Aktivität, die diesem Spielgeschehen unbestritten zugrunde liegt, deren Zweck aber allein darin besteht, die Schnittstelle zur virtuellen Welt zu bilden. Man stelle sich nur vor, was passiert, wenn man den Bildschirm ausschaltet: Die Spieler könnten nicht mehr spielen, denn sie richten ihr Klicken ja nicht am Klicken des Gegners aus, das sie ja gar nicht beobachten, sondern an den Bewegungen des Avatars. Und auch für Zuschauer wäre es doch sinnlos, allein auf die klickenden Hände zu blicken, unabhängig davon wie exzellent die koordinative Leistung auch sein mag. Sportliche Handlungen lassen sich nicht allein - wie es Borchert et al. suggerieren - über "motorisch-koordinative" Druckbedingungen, das Ausmaß körperlicher Aktivität, feinmotorisch vs. großmotorische Handlungen definieren und trennscharf von nichtsportlichen Handlungen abgrenzen, und auch nicht über weitere Kriterien wie z. B. Herzfrequenzanstieg, Cortisolausschüttung, wettkampfförmige Auseinandersetzung oder die Tatsache, dass man durch Training besser wird. Denn auf der Basis solcher Kriterien ließe sich beispielsweise auch ein Wettbewerb wie "Jugend musiziert" eindeutig dem Sport zuordnen.
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Schlagworte: System Sportwissenschaft Körperkultur Organisation Entwicklung Computer Sportart E-Sport
Notationen: Trainingswissenschaft Schulsport
DOI: 10.1007/s12662-018-0534-z
Veröffentlicht in: German Journal of Exercise and Sport Research
Veröffentlicht: 2018
Jahrgang: 48
Heft: 3
Seiten: 456-457
Dokumentenarten: Artikel
Sprache: Deutsch
Level: hoch