Motion-Capturing für die zeitnahe Bewegungsanalyse im Training

Zur qualitativen Bewertung von sportlichen Bewegungen stellen Mehrkörpersysteme (MKS) eine gute Basis dar, weil sie die Berechnung von Bewertungsgrößen wie Drehim-puls oder Lage des Körperschwerpunktes ermöglichen, die nicht direkt gemessen werden können. Die Bewertung einer Bewegung kann damit auf den Vergleich weniger, aussagekräftiger Größen reduziert werden. Die MKS-Software alaska und das zugehörige Menschmodell Dynamicus ermöglichen eine Simulation von Bewegungen mit einer weitgehend freien Auswahl von Bewertungsgrößen. Voraussetzung für die Anwendung des Modells ist allerdings eine vorherige Erfassung der zu bewertenden Bewegung. Diese kann durch unterschiedliche Messverfahren erfolgen. Bisher wurden vor allem Videoanalysen eingesetzt, um den Verlauf von Markern im dreidimensionalen Raum zu erfassen. Da dieses Verfahren sehr zeitaufwendig ist, können nur kurze Bewegungssequenzen erfasst werden. Kommerziell verfügbare Motion-Capture-Systeme nutzen zur Bewegungserfassung optische Marker oder Inertialsensoren. Dadurch ist eine automatische Auswertung möglich, die aber zugleich neue Anforderungen an die Weiterverarbeitung der erfassten Bewegung stellt. Die im Folgenden vorgestellte Prozesskette ermöglicht eine zeitnahe Bewegungsanalyse durch die direkte Kopplung des Menschmodells mit der Bewegungserfassung. Sie wurde für arbeitswissenschaftliche Analysen entwickelt und wird dort wird zurzeit prototypisch für die ergonomische Bewertung angewendet. Eine Herausforderung der arbeitswissenschaftlichen Anwendung bei Verwendung optischer Sensoren besteht in schwierigen Sichtbarkeitsbedingungen. Es kann gezeigt wer-den, dass dieses Problem durch geeignete Kombination von optischen und Inertialsensoren gut beherrscht werden kann. Voraussetzung ist, dass die notwendige Übertragung der gemessenen Bewegung auf das Menschmodell Eingangsinformationen verarbeiten kann, die nach Menge und Qualität variieren. Für die Anwendung im Sport sind darüber hinaus große Drehraten und hohe Beschleunigungen charakteristisch. Dazu sind weitere Unter-suchungen hinsichtlich der Eignung der Technologie notwendig. Um Motion Capturing und die damit verbundene Bewegungssimulation zur Trainingsunter-stützung einsetzen zu können, sind ein robust einsetzbares Capture-System und eine einfach zu bedienende Werkzeugkette Voraussetzung. Das in diese Kette integrierte Simulationsmodell ist ein speziell für die entsprechende Anwendung angepasstes Modell, an welches sich ebenso eine spezielle Bewertung anschließt. Zur Bewegungserfassung können verschiedene etablierte Trackingsysteme eingesetzt werden, die während der Bewegungserfassung in Echtzeit Sensorsignale liefern. Das ent-wickelte Erfassungstool unterstützt aktuell die optischen Systeme von A.R.T. und Vicon sowie das System von Biosyn und die Inertia-Tracker von Trivisio, die auf der Basis von Inertialsensoren arbeiten. Jedes dieser Systeme bedient eine Netzwerkschnittstelle, die von dem entwickelten Erfassungswerkzeug abgefragt wird. Dabei liefern die inertialsensorbasierten Systeme die Orientierung der Sensoren, das System Vicon die Koordinaten der Marker und das System von A.R.T. die Koordinaten des Ursprungs und die Orientierung von Targets, die aus mehreren Markern bestehen. Je ein optisches Erfassungssys-tem kann mit einem accelerometrischen System gekoppelt werden. Der Dynamicus/Recorder ist das Werkzeug zur Aufzeichnung und Visualisierung der 3D-Markerkoordinaten bzw. der Orientierungen der Inertialsensoren. Markerausfälle werden gekennzeichnet, um ein Online-Feedback zur Qualität der Aufzeichnung zu erreichen. Bei dem Einsatz mehrerer Trackingsysteme erfolgt eine automatische die Triggerung und die Synchronisation der ausgegebenen Messwerte. Darüber hinaus bietet es Funktionalität zur Kalibrierung der Sensorkonfiguration bezüglich des Probandenmodells an. Dabei wird ermittelt, wo sich die Sensoren in Bezug auf die Segmente des Probandenmodells befinden. Zu diesem Zweck passt sich der Proband einer im Dynamics/Recorder vorgegeben visualisierten Haltung an. Im Anschluss können - solange die Kalibrierung gültig ist - beliebige Bewegungen aufgezeichnet werden. Die Qualität der Kalibrierung ist eine Voraussetzung für qualitativ hochwertige Analyseergebnisse. Nach Abschluss der Aufzeichnung ist es möglich, über die Playerfunktionen die erfasste Sequenz noch einmal abzuspielen, interessierende Teile zu markieren und für die spätere Verarbeitung zu exportieren. Programmierbare Kameraeinstellungen sowie die Nutzung verschiedener Grafik-Layer vervollständigen den Funktionsumfang des Dynamicus/Recorders. Die vom Dynamicus/Recorder gespeicherte Bewegung wird anschließend durch Simulati-on der inversen Kinematik auf das Modell des Probanden übertragen. Dabei wird für jeden erfassten Zeitschritt durch nichtlineare Optimierung eine Haltung des Probanden ermittelt, die mit den Gelenkbedingungen verträglich ist und für die die Abweichungen der gemes-senen Bewegungsgrößen (Koordinaten und Orientierungen der Sensoren) von den auf dem Probandenmodell definierten Sensoren minimal ist. Durch entsprechende Wahl von Gewichtsfaktoren können dabei Defekte, die bei der Erfassung aufgetreten sind, korrigiert werden. Ergebnis dieses Arbeitsschrittes sind die Gelenkwinkel und die Absolutkoordina-ten des Beckens. Ein möglichst gutes Modell des Probanden ist eine weitere wichtige Voraussetzung für qualitativ hochwertige Simulationsergebnisse. Aus diesem Grund werden die anthropo-metrischen Leitmaße entsprechend der Messvorschrift des Menschmodells Dynamicus (Dynamicus 2010) ermittelt. Aus den Leitmaßen werden kinematische Abmessungen und Daten zur Masseverteilung berechnet. Bewegungssimulation und Bewertung Am Ende der Prozesskette steht die Berechnung der Bewertungsgrößen einschließlich einer geeigneten Anzeige dieser Größen. Sie erlaubt darüber hinaus einen Vergleich zwischen verschiedenen Bewegungsausführungen. Die Berechnung der Bewertungsgrößen geht vom Ergebnis der inversen Kinematik und dem individuell angepassten Menschmodell aus und simuliert die inverse Dynamik des Modells, deren Ergebnis beliebige Kraft- und Bewegungsgrößen als Funktion der Zeit oder als Integral über einen betrachteten Prozess ist. Die Durchführung der Berechnung kann mit Hilfe des Simulationstools alaska erfolgen. In dieser Modellierumgebung hat der Nutzer alle Möglichkeiten, eigene Messgrößen für die Bewertung einer Bewegung zu definieren. Es ist aber ebenso möglich Spezialsimulatoren wie den im folgenden Abschnitt dargestellten zu entwickeln, die auf eine spezielle Anwendung ausgelegt sind. Beispiel für einen Spezialsimulator Für die Anwendung in der Arbeitswissenschaft wurde der Spezialsimulator zur EAWS-Bewertung von Arbeitsbewegungen implementiert. Es werden Haltungen, Lasten und Kräfte bewertet, um eine Aussage über die Gestaltung eines Arbeitsplatzes zu erhalten (EAWS 2009). Die vorgestellte Werkzeugkette wurde exemplarisch auf Arbeitsverrichtungen in der PKW-Montage angewendet. Dabei konnte gezeigt werden, dass auch unter extrem schwierigen, produktionsnahen Bedingungen, wie z. B. einer teilweisen Arbeit im Innenraum eines Fahrzeuges, die Qualität der Bewegungssimulation eine ergonomische Bewertung der Verrichtungen nach dem EAWS-Verfahren gestattet (Keil 2010). Mit der vorgestellten Werkzeugkette ist es möglich eine Bewegung aufzuzeichnen und anschließend eine Bewegungssimulation durchzuführen. Der zeitliche Aufwand bis zum Start der Messung ist vor allem abhängig von den verwendeten Trackingsystemen. Bei der An-wendung des A.R.T. Systems mit integrierten Trivisio-Sensoren beträgt die Vorbereitungszeit (Anbringen der Sensoren, Kalibrierung) etwa 15 Minuten. Danach kann mit den Messungen begonnen werden. Für eine praktische Anwendung im Sport muss die Prozess- bzw. Werkzeugkette weiter optimiert werden. Vor allem hinsichtlich der Robustheit und Fehleranfälligkeit der Erfassungssysteme. Ein weiterer Untersuchungsgegenstand ist die Optimierung der Marker- und Sensoranzahl. Es ist sicherlich möglich auf einzelne Sensoren zu verzichten, wobei eine Validierung noch aussteht.
© Copyright 2012 13. Frühjahrsschule "Informations- und Kommunikationstechnologien in der angewandten Trainingswissenschaft" am 13./14. April 2011 in Leipzig. Veröffentlicht von IAT. Alle Rechte vorbehalten.

Schlagworte: Informatik Technik Video Simulation Training Biomechanik Analyse Software Untersuchungsmethode Messverfahren Bewegung Computer Motion Capturing
Notationen: Naturwissenschaften und Technik Biowissenschaften und Sportmedizin
Veröffentlicht in: 13. Frühjahrsschule "Informations- und Kommunikationstechnologien in der angewandten Trainingswissenschaft" am 13./14. April 2011 in Leipzig
Herausgeber: I. Fichtner
Veröffentlicht: Leipzig IAT 2012
Schriftenreihe: Frühjahrsschule "Informations- und Kommunikationstechnologien in der angewandten Trainingswissenschaft", 13
Seiten: 80-87
Dokumentenarten: Kongressband, Tagungsbericht
Sprache: Deutsch
Level: hoch